Donnerstag, 18. April 2024
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18,2 Millionen Menschen mit Hartz-IV-Erfahrungen

Jobcenter Tempelhof-Schöneberg

In den vergangenen zehn Jahren haben insgesamt über 18,2 Millionen Menschen Hartz-IV-Leistungen bezogen. Es waren 9,33 Millionen Männer und 8,97 Millionen Frauen. Dies geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken im Bundestag hervor. Besonders schlimm ist die Zahl der betroffenen Kinder und Jugendlichen unter 15 Jahre: es waren insgesamt 5,47 Millionen.

Gezählt wurden dabei die Menschen, die zwischen Januar 2007 und November 2017 mindestens kurzfristig einmal Hartz IV bekommen haben. Viele davon haben auch in einer persönlichen Übergangszeit vorübergehend Grundsicherung bezogen, weil sie keine Ansprüche aus der Arbeitslosenversicherung hatten.

Aktuell bezogen laut Bundesagentur für Arbeit im Februar 2018 5,95 Millionen Menschen Hartz IV. Davon waren 4,26 Millionen erwerbsfähig. Rund zwei Drittel hiervon bekamen Hartz IV, ohne arbeitslos zu sein, weil sie z.B. einem Minijob oder einer Maßnahme zur Rückkehr auf den Arbeitsmarkt nachgingen. Darunter sind auch Menschen, die Schule oder Hochschule besuchten oder wegen Krankheit arbeitsunfähig waren.

Volkswirtschaftlich ist die Statistik bedrückend: unterm Strich bekommt fast jeder zehnte Haushalt in Deutschland Hartz IV. Die geschrumpften Einkommen sind auch für den Handel und die Kieze spürbar. Seit zehn Jahren nehmen Downtrading-Tendenzen in vielen den Geschäftsstraßen und Kiezen zu.

Armut mit Existenzsicherung

Im Durchschnitt betragen die Leistungen der Grundsicherung 954 Euro für eine Bedarfsgemeinschaft. Für Alleinstehende Hartz-IV-Bezieher gilt der Regelsatz von 416 Euro pro Monat.

Die Linkspartei hatte bei der Einführung von Hartz4 protestiert und von „Armut per Gesetz“ gesprochen. Die hohe Zahl an Hartz-IV-Beziehern zeigt nach Ansicht der Linken-Politikerin Sabine Zimmermann die „Verarmung breiter Bevölkerungsteile“, die über die Jahre hinweg eingetreten ist. Mehrere Bundesregierungen hätten im Kampf dagegen versagt, sagte die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Linken-Bundestagsfraktion.

„Besonders bitter ist, dass auch so viele Kinder die Erfahrung des entwürdigenden Bezugs von Hartz-IV-Leistungen machen“, meinte Zimmermann, die die Anfrage gestellt hatte.

Seit den Hartz-Reformen werde die soziale Sicherung für Erwerbslose überwiegend Hartz IV überlassen. Eingeführt worden war Hartz IV mit der im Herbst 2003 auf den Weg gebrachten Agenda 2010 des damaligen SPD-Kanzlers Gerhard Schröder – in diesem Herbst wird die Agenda 15 Jahre alt.

„Die Leistungen schützen nicht vor Armut und gewährleisten keine angemessene Teilhabe an der Gesellschaft“, sagte Zimmermann. „Für die Beschäftigten, die aufstocken müssen, ist es entwürdigend, dass sie trotz Arbeit zum Sozialfall werden und sich dem Repressionssystem Hartz IV unterwerfen müssen, um zu überleben.“

Sanktionen und Fehlsteuerungen

Durch Sanktionen konnte die Bundesagentur für Arbeit einen Betrag von mindestens 1,7 Mrd. € bei Hartz4-Empfängern sparen. Gleichzeitig hat Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles die Ausgaben für die Verwaltung der Arbeitslosigkeit 2016 auf über fünf Milliarden Euro gesteigert. Das System ist nun zwar voll digitalisiert, aber über 560 seitige Fallakten können von den Bearbeitern gar nicht mehr gelesen werden, weil sie nur befristet angestellt werden, und die Dienstzeiten damit zu kurz sind. Das Gesamtsystem ist daher auch in hohem Maße dysfunktional, weil es zehntausende Klagen vor Sozialgerichten gibt, auch wegen falscher Bescheide.

Systemfehler Bedarfsgemeinschaften

Die Regelungen zu Bedarfsgemeinschaften sorgen indirekt für eine beständige Benachteiligung von Frauen mit Kindern. Werden Alleinerziehende arbeitslos, so finden sie praktisch keine neuen Partner mehr, weil die Kontrollen den Jobcenters auf den Partner ausgeweitet werden. Lebenspartnerschaften mit zwei Wohnungen sind deshalb zum „Ausweichmodell“ geworden, bei dem Frauen immer den Kürzeren ziehen. Nach nunmehr fünfzehn Jahren rutscht so eine ganze Kindergeneration mit ihren Müttern in die Armutsfalle.

Durch Entschärfung der Regeln für eine Bedarfsgemeinschaft wäre für Alleinstehende und Alleinerziehende ein Weg aus der aussichtslosen Armutsfalle möglich, indem die Parterwahl wieder frei von wirtschaftlichen und administrativen Beschränkungen wird. Auch in dem Schulen und Kitas kommt das Problem an, denn Kinder aus armen Haushalten leiden oft unter Schulstreß und Versagensängsten.

Die großen Volksparteien haben das Problem bisher nicht erkannt, und die langfristigen Folgen der Armut bei Kindern verkannt. Besonders deprimierend: nicht einmal die Frauenvereinigungen der Parteien haben das Problem erkannt! Der Reformdruck kommt nun aber nach den letzten Bundestagswahlen zumindestens mental an.