Freitag, 29. März 2024
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Presse: systemrelevant ?

"Prinzip Zeitung" print + digital

Kolumne: Michael Springer

In der Corona-Krise zählen inzwischen mehrere Bundesländer Journalisten und Medienvertreter zur sogenannten systemrelevanten Infrastruktur.“
In Brandenburg stellte dies die Staatskanzlei sogar in einem Schreiben an die Landräte und Oberbürgermeister klar: die Arbeit der Medien sei notwendig „für eine sachgerechte und regelmäßige Information der Öffentlichkeit“ … Das gilt gerade heute.“
In Berlin, Sachsen, Hamburg und Baden-Württemberg gelten ähnliche Regelungen. Zunächst wurden angesichts der Corona-Krise nur in Nordrhein-Westfalen und Bayern Journalisten zu den systemrelevanten Berufen gezählt.
In Berlin hat die Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie eine „Übersicht über die systemrelevanten Bereiche Kita-und /oder Schulnotbetreuung“ veröffentlicht, die seit 27.04.2020 gilt.

Der Bundesvorsitzender des Journalistenverbandes (DJV) Frank Überall sagte, die Menschen hätten ein Anrecht auf Informationen, die so nur von Presse und Rundfunk kommen könnten. Die Behörden dürften Journalisten nicht allein lassen.
Auch die Verlegerverbände hatten wiederholt gefordert, dass Journalisten zur „kritischen Infrastruktur“ gehören müssten, um die freie Berichterstattung aufrecht zu erhalten.

Der Verband der Digitalpublisher und Zeitungsverleger (BDZV) mahnte etwa, dass aktuell getroffene Maßnahmen nicht zu einer Einschränkung der Berichterstattung durch die Medien führen dürfen. „Wenn freie Recherche, Herstellung und Verbreitung von Zeitungen nicht mehr gewährleistet sind, werden Teile der Bevölkerung von der Berichterstattung abge­schnitten. Das gilt auch für die digitalen Vertriebswege“, so BDZV-Hauptgeschäftsführer Dietmar Wolff in einer Mitteilung.

Auch Wolff sieht in der Definitionen der „kritischen Infrastrukturen“, die regional unter­schiedlich vorgenommen wird, ein Problem: „Es wäre gut, wenn wir uns in Deutschland auf eine einheitliche Definition einigen könnten, was kritische Infrastrukturen sind. Die Berichterstattung durch freie Medien gehört für mich eindeutig dazu.“

Kriterien für „Systemrelevanz“ sind noch nicht explizit und funktional aufgeschlüsselt. In Brandenburg gelten Sonderregeln für „offizielle Medienvertreter“, also Inhaber des bundeseinheitlichen Presseausweises, der von verschiedenen Gewerkschaften und Verbänden ausgestellt wird. Aber auch Journalisten ohne Presseausweis, die aufgrund regelmäßiger Berichterstattung vor Ort den zuständigen Stellen lokal und regional bekannt sind, sowie technische Mitarbeiter der Medien zählen dazu. Im Mediennetzwerk Berlin und der Tempelhof-Schöneberg Zeitung werden im Herbst erste Inhaber des Europäischen Presseausweises dazu kommen, die auch in EU-Institutionen akkreditiert werden können.

Klar ist: Pressefreiheit und Journalismus sichern wichtige, unveräußerliche Menschenrechte, Grundfreiheiten und Freiheitsrechte ab. Meinungs- und Informationsfreiheit, Kunst- und Kulturfreiheiten sind nach dem Rahmen des Grundgesetz geschützt.

Qualitätsjournalismus und Paywalls
Zeitungsverleger und Digitalpublisher berufen sich auf ihre Systemrelevanz in Bezug auf Presse- und Meinungsfreiheit. Doch in Berlin sinkt die Haushaltsabdeckung von Pressemedien. Die Abo-Zahlen und Lesereichweiten repräsentieren nur einen kleinen Teil der Gesamtbevölkerung. Für die Demokratie und Partizipation bedeutsame Themen, Diskurse und Debatten werden hinter Paywalls oder in Newslettern versteckt. Die Idee der auf Freiheit, Gleichheit und Solidariät beruhenden Demokratie wird damit verraten. Es entstehen Informationsgefälle, die die Stadtgesellschaft zerreißen und vor allem wächst damit der Nährboden des Nichtwissens, auf dem Populismus und Radikalisierung gedeihen. Die Stadtgesellschaft teilt sich in Newsletter– Abonnenten, und Informations-Eliten, und verliert dabei ihre durch gemeinsam geteiltes Wissen und breite Aufklärung gestärkten Gemeinwesen-Funktionen und den sozialen Zusammenhalt.

Zeitungen: Systemrelevant für die freie und soziale Marktwirtschaft

Zeitungen und digitale Pressemedien sind systemrelevant für die freie, transparente und soziale Marktwirtschaft. Aktualität und relevante Nachrichten und konstruktiver Journalismus können für sehr hohe bewußte Lese-Reichweiten sorgen.

Doch wenn Zeitungen und vor allem digitale Zeitungen ihre Werbe- imd Anzeigenfinanzierung an weltumspannene Werbenetzwerke auslagern, verlieren die Redaktionen diese immanente Systemrelevanz für freie, soziale lokale Märkte und müssen sogar Schritt um Schritt komunale Gemeingut-Ökonomien großen Weltkonzernen überlassen.

Auch die kommunale Selbstverwaltung wird durch personalisierte Werbung und programmierbare Werbung untergraben, denn es werden völlig unkontrollierbare Signale gesetzt. Wenn etwa ein seit 1851 bestehendes großes Bestattungsunternehmen oder die Berliner Stadterke Google-Anzeigen schalten, die auch in deutschsprachigen Medien in Vorarlberg und im Tesssin ausgespielt werden, so ist das auch „digitale Geldverschwendung.“  Das Geld wird unwiederbringlich exportiert, statt im lokalen Medienmarkt für Informationsaustausch und lokale Markterfolge zu wirken. Das fehlende Einkommen der Lokalzeitungen schlägt dann auf Politik zurück, weil keine Budgets für Lokalberichterstattung verfügbar sind.
Doch funktionierende digitale Lokalzeitungen können im doppelten Sinne systemrelevant sein:

Sie garantieren Pressefreiheit und Meinungsfreiheit UND mit ihren Anzeigen und digitalen Marktplätzen auch zugleich wirtschaftliche Entfaltungsfreiheit, private und soziale Marktwirtschaft – und Gemeingutökonomien.

Digitale Zeitungen sind aber auch systemrelevant für die Zukunft der „intelligenten und sozialen Stadt“, der sogenannten „Smart City“.

Wie diese „Systemrelevanz“ künftig durch digitale Dienste, künstliche Intelligenz und IKT-Technologien ausgestaltet wird, ist die Zukunftsfrage, die auch über die Zukunft der europäischen Lebensweise entscheiden wird.