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Tempelhof-Schöneberg führt Bürger_innenräte ein!

Bürger_innenräte in Tempelhof-Schöneberg

Bürgerbeteiligung, Partizipation, Direkte Demokratie, Basisdemokratie – viele Begriffe schwirren in den politischen Debatten herum. In Tempelhof-Schöneberg wird nun das altbekannte Wort aus der Regierungserklärung von Willy Brandt 1969 aufgenommen: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“

Bezirksbürgermeisterin Angelika Schöttler und überzeugte Sozialdemokratin, nimmt nun das wohl wichtigste Herzensprojekt ihrer Amtszeit auf: „Bürgerbeteiligung 2.0 in Tempelhof-Schöneberg – Demokratieförderung auf lokaler Ebene.“

Das Projekt ist aus vielen politischen Erfahrungen und kritischen Diskussionen heraus gewachsen. Dazu gehört: in einer zunehmend komplexen und vielfältigen Stadt und in einem Großstadtbezirk wie Tempelhof-Schöneberg muss mehr Mitsprache organisiert werden, weil weder Kommunalpolitik noch Wirtschaft allein alle guten Ideen und Lösungsansätze entwickeln können.

Frau Schöttler beschreibt das Projekt aus ihrer ganz persönlichen Sicht:

„Seitdem ich in der Politik bin, stellen wir uns immer häufiger die Frage: Wie erreichen wir die Bürger_innen um sich zu beteiligen? Dieser Frage widmete sich auch die Gruppe NUR-MUT! aus Friedenau und stellte mir das Konzept der Bürger_inneräte aus Vorarlberg und Baden-Württemberg vor. Dort werden Bürger_innenräte bereits erfolgreich praktiziert.

Zwar gibt es auch in Tempelhof-Schöneberg viele Zusammenschlüsse, Vereine und auch Initiativen, die ihre Meinungen und Positionen durchaus berechtigt zum Ausdruck bringen, aber sind dies auch die Meinungen der Mehrheit? Und wenn einige Menschen sich zusammentun, um etwas zu fordern, vertreten sie dann tatsächlich auch die Meinung der Gesamtbevölkerung, also den sehr vielen anderen Menschen, die auch von dieser Entscheidung betroffen sein werden? Dieses Problem werden wir auch mit dem Konzept
der Bürger_innenräte nicht vollständig lösen können. Aber wir können erstmals auch die Meinung der anderen Personen einholen, die sonst „still“ und somit ungehört geblieben wären. Eine Bürgerbeteiligung 2.0 sozusagen.“

Neu eingerichtet werden sieben Bürger_innenräte in monatlicher Abfolge in den Ortsteilen Friedenau, Schöneberg-Nord, Tempelhof, Marienfelde, Schöneberg-Süd, Mariendorf und Lichtenrade. Friedenau macht den Anfang. Lichtenrade wird im März 2020 dabei sein.

Kommt nun die Räterepublik? Wird die repräsentative Demokratie etwa abgelöst?

Das neue Konzept der Bürgerbeteiligung 2.0 ist inzwischen ein europaweit diskutiertes und auch schon umgesetztes Modell. Es nennt sich „Demarchie„. Bürgerinnen und Bürger werden entweder zufällig per Los berufen, wie in die Bürgerversammlung in Irland, oder zufällig eingeladen, wie in Friedenau und den Beteiligungsprojekten in Vorarlberg und Baden-Württemberg.

Die Idee ist urdemokratisch und uralt. Schon Aristoteles schrieb im 4. Jahrhundert vor Christus davon:

„So gilt es, will ich sagen, für demokratisch, dass die Besetzung der Ämter durch das Los geschieht, und für oligarchisch, dass sie durch Wahl erfolgt.“

Die 99 köpfige irische Bürgerversammlung ist inzwischen bewährtes Vorbild. Die Teilnehmer_innen werden ausgelost, so dass sie möglichst einen Querschnitt der Bevölkerung abbilden. Es sitzen z.B. Frauen, Männer, Arbeitslose, Berufstätige, Arme, Reiche nebeneinander in der Versammlung. Sie beschäftigen sich ein Jahr lang intensiv mit sensiblen Themen oder Fragen, bei denen das Parlament befangen scheint. Sie sprechen mit Experten, studieren Statistiken, hören sich Menschen an, die Erfahrungen mit den jeweiligen Themen gemacht haben und diskutieren anschließend. Einmal im Monat trifft sich die Versammlung für ein Wochenende. Das Ganze wird live im Internet übertragen, ist somit transparent für alle Bürger. Am Ende stimmt die Bürgerversammlung ab. Ihren Vorschlag reichen sie an das Parlament weiter. Dieses muss sich zwar nicht nach dem Votum der Bürgerversammlung richten, erhält aber ein deutliches Signal.

Bürger_innenräte in Tempelhof-Schöneberg
So funktinieren die Bürger_innenräte in Tempelhof-Schöneberg – Grafik: Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg

Start des 1. Bürger_innenrat in Friedenau am 14.8.2019

Das Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg hat die Vorbereitungen gut um Griff. Frau Schöttler ist schon sehr optimistisch über das Gelingen des Vorhaben:

„Ich bin davon überzeugt, dass wir mit dem Konzept der Bürger_innenräte auf dem richtigen Weg sind: Über 10 Prozent der Eingeladenen haben sich inzwischen zurückgemeldet. Dies ist statistisch gesehen eine überdurchschnittlich hohe Rücklaufquote und zeigt das große Interesse an dieser Form der Bürgerbeteiligung.“

Die Beauftragte für Bürgerschaftliches Engagement Christine Fidancan und Patrick Rein stehen als Ansprechpartner bereit und organisieren die notwendigen Abläufe.
Natürlich läuft nicht alles sofort ganz glatt: Bei 600 verschickten Einladungen kamen 44 Rückmeldungen per E-Mail und 10 telefonisch. 42 Briefe waren nicht zustellbar. Rückmeldungen von Personen, denen die Teilnahme nur an einem Tag im Verfahren möglich gewesen wäre oder die eine Vertretung benennen wollten, konnten leider nicht berücksichtigt werden.

Aber es gibt 26 verbindliche Zusagen der Teilnahme und damit ist das Ziel der Größe des 1. Friedenauer Bürger_innerates erreicht!

Positives Echo der angeprochenen Bürgerinnen und Bürger

Die Rückmeldungen hatten ein durchweg positives Echo. Beispielhafte O-Töne aus den Antwortschreiben:

„Ich hab die Einladung zum 1. Friedenauer Bürger_innenrat bekommen und mich wirklich sehr darüber gefreut. Eine tolle Idee und Chance für den Bezirk.“

„Ich finde gut, dass es solch eine Veranstaltung gibt und hoffe, dass eine ausreichende Anzahl an Teilnehmern zusammenkommt.“

„Ich wünsche Ihnen und Ihrem Team viel Erfolg und eine rege Bürgerbeteiligung beim ersten Bürger_innenrat“

„Sehr gerne können Sie mich aber weiterhin für derartige Veranstaltungen anfragen, weil mich das Thema „Friedenau lebenswert erhalten und (…) gestalten“ sowie die Idee eines Bürger_innenrates sehr interessiert!“

Ein wichtiges Signal war auch den Absagen zu entnehmen, die aufgrund anderer Verpflichtungen oder Abwesenheit eine Teilnahme absagen mussten, denn der Grundton war durchweg positiv formuliert. Von Demokratieverdrossenheit keine Spur!

Das Verfahren der Zufallsauswahl hat natürlich auch einen Nachteil: Eine erneute Anfrage ist nicht möglich, da das Konzept vorsieht zu jedem Bürger_innenrat einer neuen Zufallsauswahl die Möglichkeit zur Teilnahme zu bieten.

Wie sollen die neuen Bürger_innenräte funktionieren?
Ein Bürger_innenrat ist ein bewährtes Bürgerbeteiligungsverfahren aus Österreich und Baden-Württemberg, bei dem Bürger_innen mit ihren Ideen und Erfahrungen die Politik und Verwaltung „beraten“. – Der eigentliche Bürger_innenrat besteht aus einer Gruppe von 12-15 Personen, welche per Zufallsauswahl – ähnlich wie bei Schöff_innen – aus dem Melderegister bestimmt und von
der Bezirksverwaltung angeschrieben werden. Der Bürger_innenrat soll dabei einen gesellschaftlichen Durchschnitt der Region abbilden. Die Teilnahme ist freiwillig. Ein Bürger_innenrat wird jeweils zu einem bestimmten Thema einberufen und nach seiner
Arbeit wieder aufgelöst.

Kriterien der Zufallsauswahl:
– jeweils anteilig männlich/weiblich (mit der Bitte auch um Beachtung der Geschlechteroption divers ),
– Anteil von 20 % Bürger_innen nichtdeutscher Herkunft
– jeweils zu einem Drittel aus den Altersgruppen 15-35 Jahren, 36-55 Jahren und 56-75 Jahren

Was machen die ausgewählten Bürger_innen im Rat?
Die Gruppe trifft sich für 1 ½ Tage in einer Art Workshop mit einer professionellen Moderation. Zu dem vorgegebenen Thema werden gemeinsam möglichst kreative Lösungsvorschläge entwickelt. Die Teilnehmenden bringen nur ihre persönlichen Meinungen zum Ausdruck, erfüllen also keine Repräsentantenfunktion. Die Ergebnisse werden zu einem gemeinsamen Lösungskonzept des Rates zusammengefasst.

Was geschieht mit den Lösungsvorschlägen?
Die Lösungsvorschläge werden in einem zeitnah angesetzten „Bürger_innencafé“ der Öffentlichkeit vorgestellt – also allen Bürger_innen, der Verwaltung, Politiker_innen und der Presse. Die Vorschläge werden dort noch einmal mit den Bürger_innen diskutiert und an Thementischen bearbeitet. Auch dieser Schritt wird von den speziell geschulten Moderator_innen begleitet.

Was machen Politik und Verwaltung mit den erarbeiteten Vorschlägen?
In einer sogenannten „Resonanzgruppe“ setzen sich die Verwaltungsfachleute und gegebenenfalls externe Akteure mit den Vorschlägen auseinander. Sie prüfen, welche der Vorschläge wie umgesetzt werden können. Im Anschluss teilen sie dem Bürger_innenrat und der Öffentlichkeit mit, welche der Vorschläge umgesetzt werden. Sie erklären auch, warum Vorschläge nicht – oder noch nicht – umgesetzt werden können.

Was ist das Ziel der Bürger_innenräte?
Bürger_innen werden in politische Planungs- und Entscheidungsprozesse aktiv mit einbezogen. Es entsteht ein Dialog zwischen Politik, Verwaltung und Bürger_innen. Bürger_innenräte sind eine Ergänzung zum bestehenden politischen System – also neben
„Legislative“, „Judikative“ und „Exekutive“ eine vierte Gewalt im Staat: die „Konsultative“.

Die Beratung von Politik und Verwaltung erfolgt durch die Bürger_innen. Sie werden dazu motiviert, sich für Politik zu interessieren, sich selber eine Meinung zu bilden und auch eigene Ideen zu entwickeln.

Da zu jedem Thema ein neuer Bürger_innenrat einberufen wird, haben viele Bürger_innen die Möglichkeit, zu erfahren, dass ihre Ideen und ihre Mitgestaltung auch wirksam sind.

Um welche Themen geht es bei einem Bürger_innenrat?
Die Themen können von Bürger_innen oder von der Politik vorgeschlagen werden und sollen das „Gemeinwohl betreffende“ Fragestellungen beinhalten. Dabei werden die Fragestellungen bewusst offen gehalten. Besonders erfolgreich waren Bürger_innenräte in anderen Regionen zu den Themen „Wie können wir Lebensqualität und Wachstum vereinbaren?“, „Wie gelingt gute Nachbarschaft?“ und „Wie wollen/müssen wir mit Grund und Boden umgehen?“

In Tempelhof-Schöneberg und seinen Ortsteilen Friedenau, Schöneberg-Nord, Tempelhof, Marienfelde, Schöneberg-Süd, Mariendorf und Lichtenrade können sich noch ganz andere Fragestellungen aus den Vorschlägen entwickeln. Nicht nur in Tempelhof-Schöneberg, sondern auch in ganz Berlin darf man schon gespannt sein, welche Qualitäten und Ideen das Projekt „mehr Demokratie wagen“ bringt.

Turm Rathaus Schöneberg
Bürgerbeteiligung 2.0 in Tempelhof-Schöneberg – Foto: tsz

4. Zeitplan für Tempelhof-Schöneberg 2019/2020

1. Bürger_innenrat in Friedenau: 14.08.2019 |18:00 – 20:00
Bürger_innencafé in der Seniorenfreizeitstätte Stierstraße, Stierstraße 20A, 12159 Berlin
Teilnahme-Liste ist abgeschlossen

2. Bürger_innenrat in Schöneberg Nord: 24.09.2019 | 18:00 – 20:00
Bürger_innencafé im Nachbarschaftstreffpunkt Huzur, Bülowstraße 94, 10783 Berlin
Einladungsversand ist erfolgt

3. Bürger_innenrat in Tempelhof: 07.11.2019 |18:00 – 20:00
Bürger_innencafé in der Seniorenfreizeitstätte Mireille Mathieu, Boelckestraße 102, 12101 Berlin
Einladungsversand Anfang September

4. Bürger_innenrat in Marienfelde: 27.11.2019 | 18:00 – 20:00
Bürger_innencafé in der Seniorenfreizeitstätte Eduard Bernoth, Marienfelder Allee 104, 12277 Berlin
Einladungsversand Ende September

5. Bürger_innenrat in Schöneberg Süd: 22.01.2020 | 18:00 – 20:00
Bürger_innencafé im Seniorenclub „Am Mühlenberg“, Am Mühlenberg 12, 10825 Berlin
Einladungsversand Ende November

6. Bürger_innenrat in Mariendorf: 26.02.2020 | 18:00 – 20:00
Bürger_innencafé in der Seniorenfreizeitstätte Sorgenfrei, Markgrafenstraße 10, 12105 Berlin
Einladungsversand Anfang Januar

7. Bürger_innenrat in Lichtenrade: 25.03.2020 | 18:00 – 20:00
Bürger_innencafé in der Seniorenfreizeitstätte Gemeinschaftshaus Lichtenrade, Barnetstraße 11, 12305 Berlin
Einladungsversand Anfang Februar

Mehr Informationen:

Internetseite der Bürger_innenräte: www.berlin.de/ba-ts/buerger-innenrat

Kontakte:
Beauftragte für Bürgerschaftliches Engagement
Christine Fidancan
Telefon (030) 90277–6050 | Mail: Ehrenamtsbuero@ba-ts.berlin.de

Patrick Rein
Telefon: (030) 90277-6144 | Mail: Patrick.Rein@ba-ts.berlin.de